Ohrenbetäubende Schreie. Minutenlang entledigen sich tausende Lungen auf dem Berliner Oranienplatz ihrer Wut: auf das Patriarchat, die Unterdrückung und Ungleichbehandlung von Frauen, queeren Menschen und allen anderen, die nicht weiß und männlich sind.

Am Wochenende waren die Straßen der Haupstadt mit Feminst*innen gefüllt. Bereits am 7. März hatte die Interventionistische Linke auf einer Kundgebung dazu aufgerufen, das Patriarchat zu »enteignen«.

Am 8. März sind in Berlin schließlich zehn feministische Demonstrationen und Kundgebungen zum Frauenkampftag angemeldet – für insgesamt mehrere zehntausend Menschen.

So auch in Prenzlauer Berg an der S-Bahn-Station Schönhauser Allee. Am Mariannenplatz startet eine Fahrraddemonstration mit etwa 1600 Teilnehmer*innen. Die meisten Versammlungen verlaufen an diesem Tag gewaltfrei.

Friedlich bleibt auch die größte Demo mit mehr als 10 000 Teilnehmenden, die unter dem Motto »feministisch, solidarisch, gewerkschaftlich« am Kreuzberger Oranienplatz startet und sich später in Richtung Rotes Rathaus in Mitte in Bewegung setzt.

Aufgerufen hatte ein breites Bündnis aus Gewerkschaften und feministischen Initiativen. Die Sprecher*innen machen auf die Situation von Frauen weltweit aufmerksam und nehmen die deutsche Bundesregierung in Mithaftung:

Kritisiert wird etwa, dass die Türkei militärische Unterstützung aus Deutschland erhält, obwohl die Regierung derzeit kurdische Gebiete bombardiert.

Auch das sogenannte Sondervermögen, mit dem an der Schuldenbremse vorbei massive Rüstungsinvestitionen möglich werden sollen, wird thematisiert.

»Alles soll der Kriegslogik untergeordnet werden!«, ruft eine Sprecherin vom Hauptwagen der Demonstration. Stattdessen fordert das Bündnis ein Ende der Kürzungspolitik, bezahlbaren Wohnraum, gute Bildung für alle.

Lui steht jedes Jahr am 8. März hier. Dass sich die Themen seit Jahren nicht großartig veränderten, sei für sie »leidvoll«. »Wir kämpfen immer noch gegen Gewalt an Frauen, gegen repressiven Umgang mit Frauen, die abtreiben wollen, für sexuelle Selbstbestimmung – und das Ganze seit vielen Jahrzehnten«, sagt sie. Nach Aufgeben klingt Lui dennoch nicht.

Dabei scheinen die Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung aktueller denn je: »2024 hat Friedrich Merz gegen die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 gestimmt! Unmöglich!«, dröhnt es wütend vom Wagen der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. »Und das soll uns vereinen? Das geht gar nicht!«

Gemäß ihrer Aufgabe, Demonstrationen zu schützen, verhält sich die Berliner Polizei am Oranienplatz zahlenmäßig zurückhaltend.

Dies ändert sich gegen 14:30 Uhr, als das Aufgebot der Einsatzkräfte schlagartig aufgestockt wird. Zahlreiche Polizeiwannen umstellen nun den Platz – die meisten Beamt*innen tragen volle Schutzmontur mit Helm.

Zu den Gründen dafür und den genauen Zahlen machte die Berliner Polizei bis Redaktionsschluss keine Angabe. Insgesamt sollen an diesem Tag in Berlin 800 Beamt*innen im Einsatz sein.

Ein Grund für die erhöhte Polizeipräsenz am Nachmittag des 8. März könnte sein, dass dort um 15 Uhr der Aufzug der »Alliance of Internationalist Feminists« beginnen soll.

Die Veranstaltenden thematisieren in ihrem Aufruf neben der staatlichen Androhung von Deportationen Geflüchteter und der deutschen Unterstützung für die Waffenindustrie auch explizit die »Repressionen gegen jene, die sich solidarisch mit der Befreiung Palästinas zeigen«.

Propalästinensische Proteste werden vor allem in Berlin seit weit mehr als einem Jahr unterdrückt, indem sie verboten oder mit willkürlich wirkenden Auflagen versehen werden. Als Grund werden oft Verdacht auf Antisemitismus oder Islamismus angeführt.

Gegen 15.30 Uhr ist der Oranienplatz ähnlich voll wie am Mittag, als die Gewerkschaftsdemonstration dort gestartet war. Sprechchöre wie »One, Two, Three, Four, Occupation no more!« und »Nie wieder gilt für alle!« werden skandiert.

Auf einem großen Transparent heißt es: »One Genocide doesn’t justify another.« Auch hier scheint zunächst alles friedlich zu bleiben.

Vereinzelt diskutieren Protestierende mit Polizistinnen und den wenigen Gegendemonstrantinnen über die Polizeigewalt auf vergangenen Protesten.

Ein Beamter sagt zu einem Demonstranten: »Sie können doch heute ganz normal demonstrieren und ihre Meinung äußern, wir ergreifen keine Maßnahmen.« Das sollte sich aber schon wenig später ändern.

Etwa zwei Stunden nach Beginn setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung zum Zielort Hermannplatz in Neukölln. Die Veranstaltung wird jedoch noch in Kreuzberg von der Versammlungsleitung vorzeitig beendet.

Auf Social Media Plattformen kursieren mehrere Videos, die nach der Auflösung dort entstanden sein sollen. Auf ihnen ist zu sehen, wie Polizeibeamt*innen brutal auf Protestierende einschlagen.

https://www.youtube.com/watch?v=s0q0zd8t5fo

Teilweise schlagen sie augenscheinlich auch Frauen mehrmals direkt ins Gesicht. Ein Teilnehmer sagte dem »nd«, die Polizei sei eskaliert, nachdem Teilnehmende versucht hatten, die Route weiter fortzusetzen.

Auf einer anderen Aufnahme ist zu sehen, wie eine junge Frau von zwei Beamten zunächst über den Boden geschleift und dann unter den Körpern der Polizisten auf dem Asphalt fixiert wird.

Dabei schreit einer von ihnen der offensichtlich zu keiner Bewegung mehr fähigen Frau immer wieder ins Gesicht, sie solle aufhören Widerstand zu leisten.

Das tue ich mit jetzt nicht am

Eine Fotojournalistin, die die Szene beobachtet haben soll, sagt gegenüber »nd«: »Leider zeigt das Video nicht die ganze Gewalt. Es war ein schrecklicher Moment, das war dazu noch sexualisierte Gewalt: Die Beamten hatten ihren Kopf zwischen den Beinen. Dann schüttelte einer ihren Kopf und schrie sie an.«

Auf »nd«-Anfrage zu diesen Vorfällen antwortete die Berliner Polizei bis Redaktionsschluss nicht.

Auf dem Kurznachrichtendienst »X« vermeldete sie aber mit allgemeinem Bezug zum Demonstrationszug, es seien strafbare Aussagen gefallen und Flaschen geworfen worden.

Insgesamt seien laut Polizeimeldung 28 Menschen festgenommen und ein Beamter verletzt worden. So endete der diesjährige Internationale Frauenkampftag in Berlin mit Gewalt.